Herbstakademie 2015

Was ist das spirituelle Potential der westlichen Welt? – Eine gemeinsame Suche: integral, anthroposophisch, evolutionär

Werte wie Freiheit und Verantwortlichkeit, Vernunft, Demokratie und Menschenrechte sind universell gültige Errungenschaften der Moderne, die sich im Zuge der Aufklärung vor allem in der westlichen Welt verbreitet haben.

Gleichzeitig fehlt der westlichen Zivilisation der Blick auf ihre eigene spirituelle Tiefe: Was sich oft nur als Eroberung und Nutzbarmachung der sinnlichen Welt zeigt, trägt in sich auch die Kraft einer erkennenden Einheit mit den Dingen und einer kreativen Liebe für diese Welt, um sie menschlich zu gestalten.

Programm 2015

Freitag, 6. November 2015

16.00 Registrierung und Willkommenskaffee

17.00 Begrüßung und Einführung durch Sonja Student (DIA), Dr. Thomas Steininger (EnlightenNext) und Dr. Jens Heisterkamp (Info3)

18.00 Abendessen

19.00 My Isl@m: How Fundamentalism Stole My Mind – And Doubt Freed My Soul
Amir Nasr und Mike Kauschke, per Skype

19.45 Evolutionäre Dialoge*

20.45 Integrationsrunde

21.30 Zusammensein in der Lounge

Samstag, 7. November 2015

8.30 Meditation

9.15 Erwachsene Freiheit, der Grundimpuls der westlichen Kultur
Prof. Dr. Maik Hosang und Dr. Thomas Steininger im Gespräch

10.00 Evolutionäre Dialoge*

11.00 Kaffeepause

11.30 Integrationsrunde

12.15 Mittagspause

13.00 Waldspaziergang

14.00 FORUM

Werte.Recht.Kultur – Musikalischer Dialog
Adrian Wagner und Eva van Ooij

Spiritualität in der Welt
Erfahrungen von Fedelma und Sebastian Gronbach

15.00 Evolutionäre Dialoge*

16.00 Integrationsrunde

16.45 Pause

17.15 Die Kultivierung des Mensch-Seins – Bildung für Kinderrechte und Demokratie
Sonja Student und Dr. Nadja Rosmann im Gespräch

18.00 Evolutionäre Dialoge*

19.00 Integrationsrunde

19.45 Abendessen

20.30 In Erwartung der Zärtlichkeit – Frauenrechte sind Menschenrechte
Performance mit Dorothea Walter

Sonntag, 8. November 2015

8.30 Meditation

9.15 Goethes Naturanschauung als Verbindung von Welt und Seele
Prof. Dr. Jost Schieren und Dr. Jens Heisterkamp im Gespräch

10.00 Evolutionäre Dialoge*

11.00 Kaffeepause

11.30 Integration im Fishbowl

12.30 Gemeinsamer Abschluss

13.00 Mittagessen

Künstlerische Begleitung der Herbstakademie:
Dorothea Walter

*Gespräche in Kleingruppen zu den Impulsen

Sonja Student: 10 Jahre Herbstakademie Frankfurt

Die Kraft des Dialogs und der Kooperation: integral, anthroposophisch, evolutionär

Von Sonja Student

Was ist möglich, wenn Vertreter verschiedener und verwandter philosophisch-spiritueller Richtungen dauerhaft aneinander und am Wohl des Ganzen interessiert sind, wenn sie dialogisch sind und gemeinsam handeln? Wenn sie bestehende Widersprüche aushalten und dabei nicht auseinanderbrechen, wenn sie konstruktiv ihre Spannung und Pole als VIELFALT in der EINHEIT halten und daraus Möglichkeitsräume entwickeln? Wenn die gemeinsame Suche und das Fragen wichtiger werden als die immer nur vorläufigen Antworten, ohne das vorhandene Wissen und das Unterscheidungs- und Differenzierungsvermögen aufzugeben? Der Entwicklungsprozess der Herbstakademie Frankfurt seit mittlerweile zehn Jahren zeigt aus meiner Sicht die Kraft eines „intelligenten Feldes“ und eine Intelligenz hinter der Intelligenz.

Die Herbstakademie als Bezugspunkt

Seit der Planung und Vorbereitung der ersten jährlich stattfindenden Herbstakademie 2006 arbeite ich intensiv mit Thomas Steininger von EnlightenNext Deutschland und Chefredakteur der Zeitschrift evolve sowie mit Jens Heisterkamp, Chefredakteur der anthroposophischen Zeitschrift Info3 und Erneuerer der Anthroposophie zusammen. Von unserer geistigen Herkunft sind wir Repräsentanten dreier verschiedener philosophisch-spiritueller Ansätze: der Integralen Philosophie Ken Wilbers, der Anthroposophie Rudolf Steiners und der evolutionären Spiritualität Andrew Cohens. Zugleich sind wir Personen, die ihre eigene Tiefe in der Grenzüberschreitung des Bestehenden suchen, ohne die eigene Tradition sowie die eigene individuelle Stärke leichtfertig über Bord zu werfen, alle kooperationsfähig, aber durchaus streitbar, wenn es um etwas wirklich Wichtiges geht. Durch diese Selbst-Ständigkeit und gleichzeitige Offenheit für Veränderung durch das Andere und die anderen konnten wir in den letzten zehn Jahren mit der Herbstakademie einen Bezugspunkt schaffen, nicht nur für einen Austausch zwischen den oben genannten Richtungen, sondern auch für andere Strömungen und Menschen, die an einer dialogischen, aufgeklärten und weltzugewandten Spiritualität interessiert sind und etwas dazu beitragen möchten.

Der Akademiekreis: Kultur drängt zur Struktur

Aus diesem gemeinsamen Kulturimpuls und einer gemeinsamen Praxis heraus haben wir am 21. Juni 2014 in einem Festakt und mit der Unterzeichnung einer Gründungserklärung die „Herbstakademie Frankfurt“ als jahreszeitlich übergreifende Institution gegründet. Etwa 20 Gründungsmitglieder, die schon als Impulsgeber auf den vorangegangenen Herbstakademien dabei waren, wurden von uns drei Initiatoren der Herbstakademie in den Akademie-Kreis berufen: WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen, PhilosophInnen, SozialaktivistInnenn – allen gemeinsam ist, dass sie bereits durch eigenständige Beiträge hervorgetreten sind und ein aktives Interesse an einem echten Dialog gezeigt haben. Aus der Herbstakademie und diesem Personenkreis entsteht gerade ein Programm mit öffentlichen und internen Treffen das ganze Jahr über: ein bereits eingeführter öffentlicher Akademie-Sommertag im Juli und thematisch zentrierte Veranstaltungen durch alle Jahreszeiten: u. a. zum Thema Spiritualität und Kunst in Michael Goßmanns Zentrum im Künstlerdorf Ahrenshoop (das vom Geist der Herbstakademie inspiriert ist) oder zuletzt ein Dialog über die Bedeutung des jüdischen Philosophen und Theologen Martin Buber für eine zeitgemäße Spiritualität. Die Herbstakademie lebt vor allem aus dem Engagement ihrer Mitglieder, ihrem Erkenntnisinteresse und ihrem Engagement. Ihr Fokus liegt gegenwärtig darauf, dieses Beziehungsnetzwerk zwischen den Beteiligten weiter auszubauen und zu intensivieren.

Über die Arbeit der Herbstakademie und die Beiträge ihrer Mitglieder berichten regelmäßig die beteiligten Medien und Verlage wie Info3, evolve-Zeitschrift und -Online-Radio, die integralen perspektiven und die Homepage der Herbstakademie.

Mein eigener Lernprozess: Es-Systeme und Ich-Du-Beziehungen

Eingetreten in unseren nachhaltigen Dialog bin ich (überwiegend) als jemand, die die Welt durch die Brille der Integralen Theorie betrachtet. Andere Systeme wie die Anthroposophie beispielsweise habe ich „integral gefiltert“ und versucht, sie als Teilaspekte der umfassenderen integralen Landkarte einzuordnen und sie damit nicht mehr aus sich selbst zu verstehen, sondern sie als Ganzes zu vereinnahmen. Das Integrale verstand ich damit nicht vorwiegend als orientierender, auf wesentliche Aspekte der Wirklichkeit hinweisenden Rahmen, der diese Aspekte in einer systemischen ES-Sprache darstellt, es war für mich der Rahmen überhaupt, als meine Brille. Damit war er mir nicht wirklich als Landkarte zugänglich, über die ich frei verfügen konnte, je nach Situation wichtig zur Orientierung oder auch nicht. Gute Landkarten können als orientierende Verallgemeinerungen von unschätzbarem Wert sein, sie können aber auch den direkten und unmittelbaren Zugang zur Landschaft verstellen. Das kann man einer Landkarte jedoch nicht vorwerfen. Es kommt auf ihren Gebrauch an, und daher brauchen wir meines Erachtens beides: gute Landkarten, viele Perspektiven und die Freiheit von jeglicher Perspektive, A-Perspektivität. Es gibt innerhalb der integralen Bewegung in ihrer unreifen Form eine starke Fokussierung auf das Studium der Landkarten, weil sie so wunderbar komplex und dennoch übersichtlich sind. Mit der Einordnung aller Phänomene und Strukturen in die Landkarte erwächst tatsächlich ein kognitives Verständnis von Zusammenhängen und der Ganzheit und Verbundenheit der Welt. Diese Ganzheit ist aber noch keine erlebte und verkörperte Ganzheit in der Konkretheit und Einzigartigkeit der Person.

Gerade das Fremde, das Nicht-Vereinnahmbare im Dialog, in der Begegnung und auch in unseren Vergegnungen (im Sinne Bubers) mit dem Anderen und den anderen hat mir in den letzten Jahren geholfen, eine falsche Sicherheit und Identität als „Integrale“ immer wieder infragezustellen und mehr an dem interessiert zu sein, was ich noch nicht weiß, als an dem, was ich schon weiß. Die Konflikte und das Sich-Aussetzen haben mich in meinem Selbst-Verständnis immer wieder erschüttert. Aus guten, aber immer vorläufigen Antworten sind vor allem essentielle Fragen entstanden: Wie können wir Anfang des 21. Jahrhunderts als Menschen miteinander leben und lernen, in unserem Menschsein das Göttliche oder das Eine verwirklichen? Für die Antworten brauchen wir einen echten Dialog jenseits der Getrenntheit, in Selbstständigkeit der Personen und Richtungen und in einer tiefen Verbundenheit für etwas, welcher nur aus der Freiheit von Allem entstehen kann. In un­serem gemeinsamen Prozess ist es wichtig, das Eigene klar zu entwickeln und sich in dem Anderen mit seinen Stärken und Schwächen zu spiegeln. Nur im Angesicht des Anderen wird uns das Eigene bewusst, beides ist untrennbar voneinander.

Integral – anthroposophisch – evolutionär

Heute kann ich sagen: durch den Dialog bin ich Integral geblieben und integrierter und integrer geworden, und damit zugleich evolutionärer und anthroposophischer. Ich vermute, meinen Partnern der Herbstakademie geht es ähnlich von ihrem jeweiligen Startpunkt aus. Ich habe mehr Fragen als Antworten. Ein wichtiger Schlüssel für meine eigene Erweiterung war die Freundschaft mit Menschen, von deren Wahrhaftigkeit und Integrität ich überzeugt war und bin, und die andere An-Sichten hatten. Das Sich-Aushalten in den Polaritäten in den Ich-Du-Beziehungen hat mir geholfen, die Grenzen meiner eigenen Identifikationen zu öffnen für die radikale Dimension der Andersheit als ein Teil einer Spiritualität des Lebens, die das Heilige und das Profane nicht mehr trennt, sondern das Leben heiligt oder heil macht. Ich bin sehr dankbar, dass das Integrale mir zu einem tieferen und ganzheitlicheren Verständnis von Wirklichkeit verholfen hat. Ich bin dankbar, dass die Anthroposophie mir zu einem essentiellen Verständnis der Rolle des Menschen im Kosmos verholfen hat und mir ermöglicht, meine Arbeit für die Menschenrechte und Kinderrechte tiefer zu fundieren. Ich bin dankbar, durch die evolutionäre Ausrichtung mehr an den Fragen, dem Nicht-Wissen als an den bisherigen Antworten interessiert zu sein. Und nicht zuletzt bin ich dankbar für die vielen neuen Weggefährten aus dem Akademiekreis oder beispielsweise den kooperierenden Kreisen um Annette Kaiser und der Villa Unspunnen oder Joachim Galuska und der Akademie Heiligenfeld. Auf je verschiedenen Wegen leisten sie wie viele andere Weggefährten wichtige Beiträge für eine neue Kultur des bewussten Lebens, in der die Intelligenz hinter der Intelligenz sichtbarer und wirksamer werden kann, weil wir uns dafür öffnen.

Was ist das spirituelle Potenzial der westlichen Welt?

Als wir den Flyer für die diesjährige Herbstakademie zur Endredaktion brachten, haben wir kurz vor Schluss den Titel: „Das spirituelle Potenzial der westlichen Welt“ in eine Frage verwandelt und die gemeinsame Suche betont. Es geht bei der Herbstakademie nicht nur um ein Thema, sondern darum, wie wir uns als Menschen mit unseren Mitmenschen den drängenden Fragen unsere Zeit stellen und auf den Ruf des Lebens antworten – d. h. Verantwortung übernehmen – einzeln und gemeinsam. Was kann die westliche Zivilisation zum Wohl der Weltgemeinschaft beitragen, wenn sie sich ihrer eigenen spirituellen Tiefe besinnt? „Was sich oft nur als Eroberung und Nutzbarmachung der sinnlichen Welt zeigt, trägt in sich auch die Kraft einer erkennenden Einheit mit den Dingen und einer kreativen Liebe für diese Welt, um sie menschlich zu gestalten“, heißt es im Einleitungstext. Ich lade Sie herzlich ein, dieser Frage mit uns gemeinsam nachzugehen und Antworten zu kreieren.

Erschienen in „integrale perspektiven“ 30 – 3/2015

Jens Heisterkamp: Einlassen auf das Unerwartete

Von Jens Heisterkamp

Das große Merkmal des Spirituellen ist das Unerwartete: Unerwartet stark geht die Realität des Geistes über alles nur Gelesene und Vorgestellte hinaus. Dass ich diese Erfahrung machen durfte, verdanke ich der Herbstakademie Frankfurt, die 2006 zum ersten Mal durchgeführt wurde als ein Zusammenspiel dreier spiritueller Richtungen. Mein Impuls war damals, einem Hinweis Rudolf Steiners aus den Karma-Vorträgen von 1924 folgend, die Anthroposophie zusammenzubringen mit Menschen aus anderen Strömungen, die auf ihre Weise eine aufgeklärte, das Individuum und die Evolution bejahende Spiritualität anstreben. Ken Wilber, Andrew Cohen und Rudolf Steiner standen als geistige Paten über dem Vorhaben – eine nicht unproblematische Konstellation!

Ich gestehe, dass ich zu Beginn zögerlich war, ob das gelingen würde – waren mir doch die Vorbehalte aus den „eigenen Reihen“ gegenüber allem, was wahlweise als „östlich“, „amerikanisch“ oder auch „intellektualistisch“ abgelehnt wurde, nur zu bewusst. Tatsächlich gab es anfangs auch viel Kritik an einem Vorhaben, wo man Vertreter anderer Richtungen nicht nur höfl ich zu einer Tagung einlud, sondern gemeinsam mit ihnen einen Veranstaltungsprozess entstehen ließ. Heute schmunzeln wir im Vorbereitungsteam darüber, dass ich damals Sorge wegen des gemeinsamen Meditierens hatte, ob das die Anthroposophen im Publikum mitmachen würden …

Allerdings mussten wir zunächst lange suchen, wer aus dem anthroposophischen Kontext überhaupt in der Lage Melaine McDonald und Dorothea Walther als Persönlichkeiten, für die der inter-spirituelle Austausch ein Herzensanliegen war und ist. Meinen Freunden und Mit-Initiatoren Thomas Steininger, Sonja Student und seit einiger Zeit auch Nadja Rosmann bin ich zu innigem Dank für die langjährige Zusammenarbeit verpflichtet, die im Übrigen auch schwierige Phasen des Missverstehens durchlaufen hat. Während ich zu Anfang oft Mühe hatte, angesichts von Klischees und der Blumigkeit des anthroposophischen Vokabulars die Modernität von Steiners Spiritualität darzustellen, wurde es für mich zur größten Befriedigung zu erleben, mit welchem Interesse, ja mit welcher Begeisterung meine neuen Freunde Anthroposophie mehr und mehr als bedeutenden Impuls wertschätzten und in ein fruchtbares Gespräch aufnahmen.

Die geistige Dimension, in der diese Begegnung spiritueller Sucher gleichsam „oberhalb“ ihrer jeweiligen Verwurzelung stattfi ndet, lässt sich anthroposophisch mit einem leider oft ins sektenhaft Enge gedrückten, aber im Kern immer noch kraftvollen Bild als der Bereich Michaels bezeichnen – es ist der Bereich einer „Spiritualisierung des Intellekts“ (R. Steiner) als epochaler Aufgabe. Das Aufscheinen einer solchen Dimension war und ist immer wieder unerwartet, denn die Gegenwart des Geistes übertrifft und korrigiert unsere Erwartungen. Sie rückt unsere bescheidenen und immer nur bruchstückhaften Bemühungen in einen Kontext, der nichts Geringeres meint als die Kulturen übergreifende Arbeit an der geistigen Einheit der Menschheit.

Zuerst erschienen in „Info3 – Anthroposophie im Dialog“, September 2015

Wolfgang-Andreas Schultz: Europas vergessene Seiten – Einladung zur Spurensuche

Von Wolfgang-Andreas Schultz

 

I.

Die weit verbreitete Selbstbeschreibung Europas erzählt dessen Geistesgeschichte in der Regel anhand zweier Entwicklungslinien, die der Religion und der Wissenschaft, von ihren Konflikten und auch von der Möglichkeit, sie zusammenzubringen.

Das jähe Erstaunen beim Anblick einer Zeichnung aus dem Jahre 1779, die den Menschen in seinen kosmischen Bezügen derart darstellt, dass die Planeten-Archetypen den Stellen zugeordnet sind, wo sich nach indischer Lehre die Chakren befinden[1], sollte Zweifel an dem europäischen Selbstbild wecken. Woher kommt das? Nicht aus der Religion, zumindest nicht, wie sie in Europa verstanden und praktiziert wird. Und aus der Wissenschaft auch nicht …

Was hat das Abendland gewusst, aber offenbar vergessen? Werden wir heute durch die Begegnung mit asiatischen Kulturen auf eigene unentdeckte Ressourcen gestoßen? Ist die christliche Mystik nur ein etwas unorthodoxes Anhängsel an die institutionalisierte Religion, wie sie von den Kirchen vertreten wird? War Giordano Bruno ein Naturwissenschaftler, der nur den Schritt zur mathematisierten Naturwissenschaft noch nicht geschafft hat? Oder gibt es in der europäischen Geistesgeschichte noch eine dritte Entwicklungslinie? Gerade das Dreieck Kirche – Galilei – Bruno  könnte eine Erzählung in drei Linien plausibel machen: einerseits die Kirche, die beide als Ketzer verbrennen wollte, Galilei, der eine mathematisierte materialistische Naturwissenschaft anstrebte und damit in Gegensatz stand zu Bruno, der die Welt als lebendigen, beseelten Kosmos auffasste – also drei überaus konträre Positionen.

II.

Eine reduzierte Selbstwahrnehmung bringt in der Regel ein entsprechend unvollständiges Bild anderer Kulturen hervor. Die vom Islam geprägten Kulturen kennen nicht nur den Gesetzes-Islam in seinen verschiedenen Richtungen (darunter eben auch die fundamentalistischen, auf den Wahabismus zurückgehenden), eine Zeit des Rationalismus und der Aufklärung[2] mit einem Aufblühen der Wissenschaft in den Jahrhunderten um die erste Jahrtausendwende, sondern auch den Sufismus, eine auf vorislamische Traditionen aufbauende Mystik, die Gott im Herzen eines jeden Menschen sucht. Dem Rationalismus verdankt Europa die Überlieferung der antiken Philosophie, zumal des Aristoteles, während der Sufismus, dessen bekannteste Vertreten Dschelaleddin Rumi und Ibn’Arabi sind (beides Mystiker, Dichter und Philosophen zugleich), sich oft im Konflikt mit dem Gesetzes-Islam befand: viele Mystiker wurden verfolgt und sogar hingerichtet.

Auch heute gibt es vielerorts diese drei Linien: eine an Westen und an Rationalität und Aufklärung orientierte Oberschicht, den Gesetzes-Islam und den in der Bevölkerung sehr beliebten Sufismus mit Heiligen-Verehrung, Volksfesten und einer großen Toleranz für andere Religionen.

Es ist eine Tragödie, dass gerade in Ländern wie Pakistan und Afghanistan heute der Sufismus von fundamentalistischen Strömungen wie den Taliban erbittert bekämpft wird; sie „versuchen diese äußerst tolerante, synkretistische Verkörperung des Islam zu zersetzen, obwohl gerade heute ein solches Gesicht des Islam dringend gebraucht wird, um die wachsende Kluft zwischen dieser und anderen Religionen zu überbrücken“, schreibt William Dalrymple[3], der sogar von einem „Kampf der Kulturen“ spricht, „nicht zwischen dem Osten und dem Westen, sondern innerhalb des Islam.“

Die andere Tragödie ist, dass der Westen diesen Kulturkampf nicht wahrgenommen hat, weil er nur in den beiden Linien Religion und Glaube einerseits und Wissenschaft und Rationalität andererseits denkt.

III.

Wie sieht es nun in der abendländischen Kultur aus, in Europa? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit[4] soll der Blick auf einige Aspekte der abendländischen Geschichte versuchen, die Frage nach dem möglicherweise unvollständigen Selbstbild zu beantworten.

Unbestritten ist, dass die Entwicklung der Philosophie von den Vorsokratikern bis zu Platon und Aristoteles zu den ganz großen Leistungen der griechischen Antike gehört, und ebenso unbestritten scheint die Vorstellung, im Bereich der Religion habe das Christentum den verblassenden antiken Götterhimmel beerbt. Aber welche Rolle spielen die dabei oft übersehenen Mysterien-Religionen?

„Offenbar vermochte der allgemeine Kult, also die von Homer geprägte olympische Götterwelt, die religiösen Bedürfnisse auf Dauer nicht zu befriedigen. (…) Die althergebrachte Religion (…) gab keine befriedigende Antwort auf die Frage des Individuums: Woher komme ich? Wohin gehe ich?“[5]  Die Suche „nach einer religiösen Bindung, die sich auf die persönliche Existenz bezog“[6] fand ihr Ziel in den Einweihungsritualen der Mysterien, die sich zunächst noch mit den olympischen Göttern verbinden ließen, auch wenn von Anfang an Einflüsse aus Ägypten und dem Orient bestimmend waren. Auffällig ist, dass viele Mysterien eine Göttin als Zentrum haben und eng mit den Rhythmen der Natur verwoben sind. „Als Herrin der Natur ist die Göttin mit dem Wachsen, Blühen und Vergehen der Vegetation verbunden (…) Die aufblühende, sterbende und wiedererstehende Vegetation wird im Bilde des blühenden junges Heros gesehen, der von der Allmutter geliebt, aber auch geopfert wird und der wieder neu, aber verwandelt, aufersteht: der Mythos vom sterbenden und wiedererstehenden Gott.“[7]

Pythagoras war wahrscheinlich in die ägyptischen Mysterien eingeweiht, wie Platon in die eleusischen. Dieser ägyptisch-orientalische Anteil der griechischen Antike darf nicht unterschätzt werden, zumal in ihm sich zwei entscheidende Elemente finden, die die Mysterien in Gegensatz zur antiken Götterreligion treten lassen: die persönliche Erfahrung in der Einweihung und die Heiligkeit der Natur mit einer Göttin im Zentrum als Gegengewicht zu dem von männlichen Göttern dominierten Olymp.

Der Gegensatz zu diesen Göttern verschärfte sich von der Zeit an, als im Hellenismus mit dem Isis-Kult eine ägyptische Göttin in den Mittelpunkt rückte. „Isis war (…) keine nationalrömische Göttin geworden wie die Mater Magna Kybele; ihr Kult hatte mit großen Widerständen, ja mit Verfolgung und Vertreibung zu kämpfen.“[8] Osiris, der Gemahl der Isis, durchlief, wie symbolisch auch jeder Eingeweihte, das Schicksal von Tod und Wiedergeburt, ebenso wie – nach ägyptischer Vorstellung – die Sonne auf ihrer Nachtfahrt. Im Roman „Der goldenen Esel“ von Apuleius ist ein Bericht über die Einweihung in die Isis-Mysterien zu finden. Isis wurde in der Spätantike zur Universalgöttin, „die Eine, die alles in einem ist“.[9] „Die Übereinstimmungen mit dem Christentum sind deutlich, doch ist keine Abhängigkeit zu konstatieren. Der Weg zur universellen Gottheit war vorgezeichnet.“[10]

IV.

Jede Erzählung von Geschichte ist eine Konstruktion und beruht auf subjektiven Entscheidungen, so auch der Versuch, die europäische Geschichte durch drei Entwicklungslinien zu beschreiben. Wie sinnvoll ein solches Unterfangen ist, bemisst sich daran, ob es zu tieferem Verständnis beiträgt – letztlich eine Frage der Evidenz.

Die drei Entwicklungslinien darf man sich nicht strikt getrennt vorstellen, sie können sich in vielfältiger Weise berühren, ja fast verschmelzen, oder sich feindlich gegenüberstehen, und in den verschiedenen Ländern Europa hat es zu verschiedenen Zeit unterschiedliche Ausprägungen der drei Linien in unterschiedlichsten Konstellationen gegeben – man könnte versucht sein, so etwas wie eine nationale Identität der europäischen Länder u.a. durch die jeweilige Erscheinungsform und Konstellation der drei Entwicklungslinien zu beschreiben.

V.

Monotheistische Religionen der Art, dass ein außer- oder überweltlicher Gott geglaubt wird, neigen dazu, da die Welt jetzt „nur“ noch als Gottes Schöpfung, aber nicht mehr als seine Manifestation gesehen wird, die Natur zu entwerten, was im Christentum des Westens durch den Einfluss von Neuplatonismus und Manichäismus bis zu einem extremen Dualismus gehen konnte, der in der Welt und der Natur etwas Gegengöttliches sah.

Andererseits sollte man die polytheistischen Naturreligionen, gegen die sich die monotheistischen durchsetzen mussten, nicht verklären. Die monotheistischen Religionen brachten eine neue Geistigkeit, die Würde des Einzelnen und eine allgemeingültige Ethik, was gegenüber den meisten polytheistischen Naturreligionen einen Fortschritt, in gewisser Weise sogar eine Befreiung darstellte, deren dunkle Seiten ja das Menschenopfer war, eine Praxis, die sowohl für die germanische als auch für die keltische und sogar für die ältere Zeit der griechischen Religion belegt ist.[11] Die dunkle Seite des Christentums allerdings ist der gnadenlose Kampf gegen das Heidentum und gegen jegliche Naturverehrung. Weil der eine Gott letztlich doch männlich gedacht war, lud er dazu ein, bis hin zur Hexenverbrennung alle Spuren weiblicher Naturverbundenheit zu tilgen.

Und dennoch zeigte sich, meist im Geheimen oder im offenen Konflikt mit der Kirche, dass sowohl der Gedanke der Heiligkeit der Natur als auch der einer persönlichen Gotteserfahrung überlebten.

„Irland war (…) eine Entdeckung, weil ich dort auf eine Unterströmung des Christentums traf, die vieles davon besaß, was mir die Kirche nie hatte bieten können: Magie, Poesie, Naturverbundenheit, archaische Kraft (…)“[12] Im keltischen Christentum in Irland scheinen also christlicher Monotheismus und die Heiligkeit der Natur eine glückliche Verbindung eingegangen zu sein, so lange, bis der Papst mit Hilfe des englischen Militärs die Iren auf seine Linie brachte.

Große Vorsicht mussten die Theologen und Philosophen der Schule von Chartres walten lassen, denn sie begriffen „den Kosmos als ein lebendiges Wesen.“[13] „Das intensive Erleben der  ‚Natur‘ war in Chartres seit Urzeiten lebendig. Die Schule von Chartres lebte in dieser Tradition und erweiterte sie, indem sie jetzt einerseits zum bloßen Erleben der Natur deren denkerisches Erkennen hinzufügte und andererseits den Einklang mit dem Mikrokosmos, dem Menschen, erkannte.“[14] Einklang von Makrokosmos und Mikrokosmos – das wäre die Tradition der hellenistischen Mysterien, und tatsächlich scheint es in Chartres einen Schulungsweg gegeben zu haben, der in mancher Hinsicht den Mysterien der Antike ähnelt. Man fühlte sich „mit Ägypten und der ägyptischen Weisheit verbunden, ihre Bilder waren bekannt, ihre Inhalte präsent (…)“[15]

Die Möglichkeit persönlicher Gotteserfahrung blühte auf in der Mystik des Mittelalters, deren wichtigste Vertreter Meister Eckhart und Hildegard von Bingen sind. Gerade Eckhart hatte heftige Probleme mit der Kirche und der Inquisition – die Verdammungsbulle trifft aber erst nach seinem Tod ein. In der Tat gibt es gewichtige Unterschiede zur Lehre der Kirche, etwa in der Interpretation der Menschwerdung Gottes: für die Kirche ein einmaliges historisches Ereignis in Jesus Christus, für den Mystiker etwas, was sich in jedem Menschen vollzieht, so zu verstehen, „dass ein jeder Mensch ein einiger Sohn ist, den der Vater ewiglich geboren hat.“[16] Das Bewusstsein der Gottessohnschaft hebt die Trennung von Gott und Mensch auf: Gott wird in der Seele eines jeden Einzelnen geboren und dadurch Mensch.

VI.

Die Renaissance hat nicht nur die griechische Antike wiederentdeckt (deren Philosophie ja bereits durch die Vermittlung der Araber bekannt war), sondern auch Hermes Trismegistos. Dessen „Corpus Hermeticum“ galt lange Zeit als Weisheitstext des alten Ägypten, stammt aber aus der Spätantike und wurde 1471 von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzt[17] – mit beträchtlichen Folgen, besonders im Kreise der Alchemisten.

Allenthalben führen Spuren nach Ägypten, denn die Alchemie war „größtenteils ägyptischen Ursprungs“[18] und müsste bereits im 11./12. Jahrhundert über die Araber in den westlich-abendländischen Kulturkreis gelangt sein.[19] „Die Alchemie bildet etwas wie eine Unterströmung zu dem die Oberfläche beherrschenden Christentum. Sie verhält sich zu diesem wie der Traum zum Bewusstsein.“[20] Tatsächlich geht es um die „Projektion seelischer Inhalte in die Materie“,[21] und bei dem „alchemistischen Opus handelt es sich zum größten Teil nicht nur um chemische Experimente allein, sondern auch um etwas wie psychische Vorgänge, die in pseudochemischer Sprache ausgedrückt werden.[22] (…) alles Unbewusste war, sofern aktiviert, ins Stoffliche projiziert, das heißt, es trat dem Menschen von außen entgegen.“[23]  Die Alchemie war von der Kirche verboten und doch auch von der gleichzeitig sich entwickelnden materialistisch ansetzenden Naturwissenschaft weit entfernt. C.G. Jung betont in seinem Resümee, „bis zu welchem Grade die Alchemie eine religiös-philosophische oder ‚mystische‘ Bewegung war. Sie erreichte wohl ihren Gipfel in der Gestaltung von Goethes religiöser Weltanschauung, wie sie uns im ‚Faust‘ erscheint.“[24]

So lebte die seelische Symbolwelt lange weiter, auch als sich die Alchemie längst gespalten hatte in die Naturwissenschaft (Paracelsus) einerseits und die christliche Mystik (Jakob Böhme) andererseits[25] – letzterer wurde von der Romantik hoch verehrt, heißt es bei ihm doch: „Wir zeigen Euch die Offenbarung der Gottheit in der Natur.“[26] Hier finden wir sie wieder, die Verbindung von Mystik als persönlicher Gotteserfahrung mit dem Gedanken der Göttlichkeit und Heiligkeit der Natur.

Das Corpus Hermeticum wurde auch später, bei Ralph Cudworth (1671/78), so gelesen, dass es „auf eine Theologie der All-Einheit hinausläuft.“[27]  Und George Berkeley fasst 1744 zusammen: „Platon und Aristoteles betrachteten Gott als abstrahiert oder geschieden von der natürlichen Welt. Die Ägypter ( und damit bezieht er sich auf Hermes Trismegistos) aber betrachteten Gott und Natur als Einheit. (…)  Damit schlossen sie den verstehenden Geist nicht aus, sondern betrachteten ihn als den umfassenden Raum aller Dinge.“[28] Diese Theologie „bestand in der Gleichsetzung von Gott und Natur, und zwar so, dass nicht Gott auf die Natur reduziert, sondern die Natur als allumfassende Gottheit verstanden wurde.“[29]

Diese Überlegungen führen ins Zentrum einer Debatte, die zur Zeit der Aufklärung und der Klassik geführt wurde, und  bei der es vordergründig um die ägyptischen Wurzeln von Moses und der monotheistischen Religion ging, in Wahrheit aber um die hermetische Tradition und um die Auffassung des Kosmos als stufenweise Manifestation Gottes, um den „Kosmotheismus“, wie Jan Assmann diese Anschauung nannte, um die Tradition der Sicht des Kosmos als lebendiges, beseeltes Ganzes von Hermes Trismegistos über Giordano Bruno und Baruch de Spinoza.

VII.

Die eben zitierten Formulierungen sollten eigentlich die Lesart ausschließen, der Kosmotheismus sei eine Wiederkehr des Polytheismus. Eine Wiederkehr des Gedankens der Göttlichkeit der Natur allerdings, aber keiner wäre zur Zeit der Aufklärung und der Klassik auf die Idee verfallen, antike Götter ernsthaft als Gegenstand der Anbetung neu zu inthronisieren. Vielmehr geschah das alles in einem Raum, in dem ein undogmatisches Christentum genauso Platz fand wie die Idee der Heiligkeit der Natur – das zeigen die Dichtungen von Hölderlin und Novalis (der ja nicht nur das geniale naturphilosophische Romanfragment „Die Lehrlinge zu Sais“ dichtete, sondern auch Geistliche Lieder) ebenso wie die Schriften von Lessing und Schiller.

Der Kosmotheismus war zur Zeit der Klassik und der frühen Romantik die in den gebildeten Schichten vorherrschende Weltanschauung, die einherging mit einer Ägyptenmode, deren schönstes Resultat „Die Zauberflöte“ von Mozart wurde, in der das Einweihungsritual in die ägyptischen Mysterien im Zentrum stand, so wie man sie sich in den Kreisen der Freimaurer damals vorstellte. Aber auch die Legende vom verschleierten Bild zu Sais (hinter dem sich die Göttin Isis oder „die Natur“  –  im umfassenden Sinne – verbarg) hat die Dichter beschäftigt, dessen Inschrift lautete: „Ich bin, was da ist, was da war und was da sein wird. Meinen Schleier hat niemand gelüftet.“[30] Von Novalis gibt es ein Epigramm: „Einem gelang es – er hob den Schleier der Göttin zu Sais – / Aber was sah er? Er sah – Wunder des Wunders – sich selbst.“[31] Hier wird die Brücke geschlagen zwischen der Göttlichkeit der Natur und der persönlichen Erfahrung des Einsseins mit dem Göttlichen, in der hermetischen Tradition der Harmonie von Makrokosmos, dem Universum, und dem Mikrokosmos, dem Menschen.

Philosophisch konzentrierte sich der Kosmotheismus in der von Lessing in die Diskussion gebrachten Formel „hen kai pan“ – das Eine in allem, das „All-Eine“.[32]  Sie wies zurück auf Spinoza und Bruno und letztlich auf das, was man für altägyptische Weisheit hielt.

Die Aufklärung, die Klassik und die frühe Romantik hatten also durchaus eine spirituelle Seite, allerdings stand diese im Gegensatz zu den Dogmen der Kirchen.[33] Im Hinblick auf die Sicht der Natur gab es aber ebenso Konflikte mit der mathematisierten und damit letztlich materialistischen Naturwissenschaft – die Auseinandersetzung von Goethe mit Newton über die Natur des Lichts und der Farben zeugt davon (dabei ist es nicht ohne Ironie, dass Newton zugleich einer der letzten Alchemisten war). Der Kosmotheismus war also keineswegs nur eine Frage der Religion, sondern betraf genauso das Verhältnis zur Natur und das Konzept von Wissenschaft. Auch hier findet man wieder das Dreieck einer dritten Entwicklungslinie in Konflikt mit der ersten (Kirchen) und der zweiten (materialistische Naturwissenschaft).

Die Idee einer Evolution des Gottesbildes war der Aufklärung nicht fremd – Lessing vertritt sie in seiner Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“. Der Grundgedanke, dass Menschen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen unterschiedliche Gottesvorstellungen haben,[34] findet sich schon bei Maimonides und in der Renaissance bei Pico della Mirandola, wenn dieser von den „geheimen Mysterien, die sich unter der Schale der Gesetzes und unter dem großen Mantel der Worte verbargen“[35] spricht, und wurde in der Aufklärung unter dem Begriff „religio duplex“ benutzt, um die Vereinbarkeit von „offenbarter und natürlicher Religion“ zu begründen. Auch der Begriff „Monotheismus“ hat einen Bedeutungswandel durchgemacht: War der eine Gott im Alten Testament noch der eifersüchtig über die Treue seines auserwählten Volkes wachende Gott Israels, so wurde er später (im Judentum wie im Christentum) zum universalen Gott aller Menschen. Wenn ein Theologe die kirchlich-christliche Gottesvorstellung so beschreibt: „Es gibt einen allmächtigen und allwissenden Gott, der die Welt geschaffen hat und dieser Welt gegenübersteht und auf sie einwirken kann“,[36] dann ließe sich einwenden: Solange es neben Gott noch ein Anderes gibt, und sei es auch nur die eigene Schöpfung (oder gar der Teufel …), kann von einem reifen Monotheismus noch nicht die Rede sein. Indien kennt den Begriff „Advaita“ – Nicht-Zweiheit; Vivekananda schreibt: „Der Dualist glaubt, dass Gott sich außerhalb des Universums befindet, der Advaitist dagegen, dass Er seine eigene Seele ist.“[37]

So lassen sich unter dem Begriff eines reifen Monotheismus bzw. „Advaita“ die beiden Erscheinungsweisen der dritten Entwicklungslinie zusammenfassen als „Immanenz Gottes“: Gott in der eigenen Seele erfahren in der Tradition der Mystik, und im beseelten Kosmos in der Tradition von der Hermetik bis zum Kosmotheismus. Die Idee der Manifestation Gottes in der unbelebten und belebten Natur bis hinauf zur mystischen Erfahrung schließt die Kluft zwischen Gott und Welt, zwischen Gott und Mensch. „Gott schläft im Stein, atmet in der Pflanze, träumt im Tier und wacht auf im Menschen.“[38]

VIII.

In der dritten Entwicklungslinie finden sich Vorstellungen über seelisches Wachsen und über persönliche Weiterentwicklung, wie sie weder Kirche noch Wissenschaft liefern können, in der Mystik bei Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz, bei Lessing, Karl Philipp Moritz und Goethe, und es ist tragisch, dass diese Linie im Laufe der 19. Jahrhunderts so dramatisch an Bedeutung verlor. Die Ursachen dürften einerseits darin liegen, dass der Kosmotheismus auf keine Tradition spiritueller Praxis zurückgreifen konnte, um den „Gott der Philosophen“ in der Erfahrung und im Herzen zu verankern, andererseits in dem Siegeszug der materialistischen Naturwissenschaften, gegen den sich die Romantiker (besonders Schelling) vergeblich zu stemmen versuchten.

Das überwiegend vorherrschende reduzierte Selbstbild Europas hatte auch zur Folge, dass der eigene reduzierte Zivilisationsbegriff zum Maßstab anderen Kulturen gegenüber genommen wurde. Die „großen Widersacher“ der Kolonisatoren und Siedler, „die es zu bezwingen galt, waren Natur und Chaos, Traditionen und die Geister und Gespenster des ‚Aberglaubens‘ jeglicher Art.“[39] So wurde der Kampf gegen die vermeintlichen Dämonen im Inneren der eigenen Kultur fortgesetzt im Kampf gegen die naturreligiösen Traditionen anderer Kulturen; Europa bekämpfte im Anderen das verdrängte Eigene. Dagegen ließen sich von der dritten Entwicklungslinie aus gut Brücken bauen zu den anderen Kulturen, über die Mystik und den Kosmotheismus.

Da in Europa die Psychologie im Gefolge der Medizin entstand, geriet auch sie rasch unter den Einfluss des materialistisch-mechanistischen Denkens, beschäftigte sich überwiegend mit psychischen Krankheiten und wurde blind für die im Menschen angelegten Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten. Abraham Maslow schrieb: „Es ist, als hätte Freud uns die kranke Hälfte der Psychologie geliefert, die wir jetzt mit der gesunden Hälfte ergänzen müssen.“[40] Und Daniel Goleman geht so weit zu sagen: „Die modernen psychologischen Theorien haben ihre Wurzeln in der europäischen und amerikanischen Wissenschaft und Kultur, und man kann das Fach Psychologie als kulturgebunden betrachten, so kurzsichtig, ja geradezu solipsistisch ist es in seiner Unkenntnis psychologischer Systeme aus anderen Regionen und Zeiten.“[41]

IX.

Gerade weil, trotz so herausragender Persönlichkeiten wie Henri Bergson und Rudolf Steiner, die dritte Entwicklungslinie weitgehend in den Untergrund gedrängt war, wuchs die Gefahr des politischen Missbrauchs spiritueller Bedürfnisse. Sie bestand immer dann, wenn tatsächlich ein vorchristlicher (etwa germanischer) Polytheismus wiederbelebt werden sollte, wenn die Verbindung des Gedankens der Heiligkeit der Natur  mit der jüdisch-christlichen Tradition und der philosophischen Tradition von Griechenland her verloren ging, und wenn das Individuum als Ort der Manifestation Gottes auf dem Altar kollektivistischer Ideologien geopfert wurde.[42]

Das machte die Menschen, besonders in Deutschland, nach 1945 extrem vorsichtig und begünstigte den Rückzug auf ein materialistischen Weltbild, auf Rationalität und Beweisbarkeit.

Viele ahnen inzwischen, dass diese Haltung eine Verarmung bedeutet, zu innerer Leere führt, zu einem Verlust an Lebendigkeit und Kreativität, die gerade im Kulturbereich zu beklagen ist. So lässt sich allenthalben der Ruf nach einer „zweiten Renaissance“ vernehmen, nach einer „kulturellen Wiedergeburt“.[43] Möglicherweise bedarf es dazu eines Anstoßes von außen: „Wir sind überzeugt, dass die Wiederentdeckung der asiatischen Philosophie (…) für die westliche Kulturgeschichte einer ‚zweiten Renaissance‘ entspricht.“[44] Eine Begegnung mit der indischen, japanischen oder chinesischen Kultur könnte Europa sensibilisieren für die vergessenen eigenen Potenziale – so sieht es Francois Jullien : „Meine Arbeit besteht (…) darin, Figuren der Andersheit zwischen China und Europa zu schaffen – nicht um Welten aus ihnen zu machen, sondern um sie auf das europäische Denken zurückzuwenden, um dort dasjenige wahrzunehmen, was es bisweilen zwar kurz als Möglichkeit erblickt, dann aber beiseite gelassen hat, indem es andere Wege bevorzugte; dasjenige also, was dort scheiterte oder an den Rand gedrängt wurde.“[45]

Gewiss kann Europa von den Kulturen des fernen Ostens viel lernen, sind diese doch in der Erforschung des Bewusstseins und in spiritueller Praxis viel erfahrener; und doch finden sich in der europäischen Geistesgeschichte alle Ressourcen, einen eigenen Weg zu finden anstatt den Osten zu kopieren. Die Integration der dritten Entwicklungslinie in das Selbstbild Europas wäre dafür die Voraussetzung.

Eine konkrete Utopie wäre die Harmonisierung der drei Entwicklungslinien. Dafür stehen die Chancen gar nicht so schlecht: In den Wissenschaften mehren sich die Stimmen, die das materialistische Weltbild für falsch halten (Rupert Sheldrake,[46] Thomas Nagel,[47] Ken Wilber[48]), Stimmen, die Goethe gegen Newton Recht geben,[49] Stimmen eines neuen naturphilosophischen Denkens (Jochen Kirchhoff,[50] Andreas Weber[51]), und auch in den Kirchen erlebt man eine vorsichtige Öffnung für eine mystische Spiritualität. Die Widerstände des alten Denkens sind beträchtlich, es wird machtpolitisch reagiert statt offen zu diskutieren – man wird aber hoffentlich nicht von einem Kulturkampf innerhalb der europäischen Kultur sprechen müssen … In Kirche, Wissenschaft und Kultur wird die Zukunft denen gehören, die sich wandeln können.

 


[1]             Johann Georg Gichtel: Theosophia Practica, 1779, mitgeteilt in: Johann Munzer: Involution und Evolution des Geistes und die Rolle der Archetypen, in: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, 9. Jahrgang, 2003/1, S. 77

[2]             Dazu: Abdelwahab Meddeb: Islam und Aufklärung, in: Lettre International, Sommer 2006, S. 17

[3]             William Dalrymple: Sufismus, Pfad der Liebe, in: Lettre International, Frühjahr 2005, S. 24

[4]             Dem Autor ist bewusst, oft aus der Perspektive der deutschen Geistesgeschichte zu schreiben; er möchte dazu ermutigen, entsprechende Spuren in den anderen europäischen Ländern wie auch im europäischen Judentum zu suchen.

[5]             Marion Giebel: Das Geheimnis der Mysterien, München 1993, S. 9 und 11

[6]             Giebel, a.a.O. S. 12

[7]             Giebel, a.a.O. S. 117-118

[8]             Giebel, a.a.O. S. 192

[9]             Giebel, a.a.O. S. 172

[10]           Giebel, a.a.O. S. 181

[11]           Helmuth von Glasenapp: Die nichtchristlichen Religionen, Frankfurt a.M. 1957, S. 128, 140 und 233

[12]           Rüdiger Sünner: Totenschiff und Sternenschloss, Klein Jasedow 2008, S. 59

[13]           Frank Teichmann: Der Mensch und sein Tempel – Chartres. Schule und Kathedrale, Stuttgart 1991, S. 129

[14]           Teichmann, a.a.O. S. 132

[15]           Teichmann, a.a.O. S. 288

[16]           Meister Eckehart: Predigt über „Ich und der Vater sind eins“, in: Eckehart: Vom Wunder der Seele, Stuttgart o.J., S. 45

[17]           Erste deutsche Ausgabe Hamburg 1706

[18]           Carl Gustav Jung: Psychologie und Alchemie, Ostfildern 1995, S. 160

[19]           Dazu: Manfred Ehmer: Weisheit des Westens, Düsseldorf 1998,  S. 258

[20]           Jung, a.a.O. S. 38

[21]           Jung, a.a.O. S. 309

[22]           Jung, a.a.O. S. 282

[23]           Jung, a.a.O. S. 322

[24]           Jung, a.a.O. S. 537

[25]           Jung, a.a.O. S. 490

[26]           Zitiert nach Gerhard Wehr: Jakob Böhme, Wiesbaden 2010, S. 92

[27]           Jan Assmann, Religio duplex – Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung, Berlin 2010, S. 81

[28]           Zitiert nach Assmann, a.a.O. S. 82

[29]           Assmann, a.a.O. S. 82

[30]           Zitiert nach Assmann, a.a.O. S. 76

[31]           Novalis, Werke und Briefe, München o.J., S. 139

[32]           Dazu: Jann Assmann: Moses der Ägypter,  München-Wien 1998, S. 205 ff.

[33]           Ein wichtiger Vermittler allerdings war der protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher.

[34]           Dazu: Küstenmacher / Haberer /Küstenmacher: Gott 9.0 – Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird, Gütersloh 2011

[35]           Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen, Hamburg 1990, S. 59

[36]           Urs Eigenmann: Ein Gott der Fremden und der Kleinen, in: Publik-Forum 2014 / Nr. 23, S. 27

[37]           Swami Vivekananda: Vedanta, Frankfurt a.M. 1989/2006, S. 95

[38]           Indischer Spruch, zitiert nach: Holger Schleip (Hrgb.): Zurück zur Naturreligion, S. 248

[39]           Jürgen Osterhammel, zitiert nach: Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung, München 2011, S. 153

[40]           Abraham A. Maslow: Psychologie des Seins, München 1973, S. 23

[41]           Daniel Goleman: Dialog mit dem Dalai Lama, München-Wien 2003, S. 122

[42]           Dazu: Barbara v. Meibom: Deutschlands Chance – mit dem Schatten versöhnen, Wien-Berlin-München 2013, sowie: Wolfgang Aurose: Die Seele der Nationen, Wien-Berlin-München 2014

[43]           Ben Schofield: Neue Geschichten, alte Geschichte, in: Hertling/Hassemer: Europa eine Seele geben, Berlin-München-Wien 2014, S. 179

[44]           Varela / Thompson: Der mittlere Weg  der Erkenntnis, Bern-München-Wien 1992, S. 42

[45]           Das neue Gemeinsame – Bruno Latour im Gespräch mit Francois Jullien, in: Lettre International, Frühjahr 2008, S. 63

[46]           Rupert Sheldrake: Der Wissenschaftswahn – Warum der Materialismus ausgedient hat,  München 2012

[47]           Thomas Nagel: Geist und Kosmos – Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2013

[48]           Ken Wilber: Eros, Kosmos, Logos – eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend, Frankfurt a.M. 1996

[49]           Z.B. James Gleick: Chaos – die Ordnung des Universums, München 1990, S. 238

[50]           Jochen Kirchhoff: Was die Erde will – Mensch, Kosmos, Tiefenökologie, Bergisch Gladbach 1998

[51]           Andreas Weber: Lebendigkeit – eine erotische Ökologie, München 2014

Termin 2015

Beginn: Freitag,
6. November, 16 Uhr

Ende: Sonntag,
8. November, 14 Uhr
(nach dem Mittagessen)

Referenten:

Nadja Rosmann

Publizistin (Moderation)

Fedelma Gronbach

Bergwanderführerin und Yogalehrerin

Anmeldung und Infos

Liss Gehlen
info@herbstakademie-frankfurt.de
Tel: 069-584645

Tagungsstätte

Akademie Gesundes Leben
Gotische Straße 15
61440 Oberursel/Taunus
Tel. 06172-3009-822
Fax 06172-3009-819

Tagungspreis

Der Tagungspreis beträgt regulär:
325,- Euro zzgl. 92,- Euro Verpflegung
Frühbucherrabatt bis 14.9.:
275,- Euro zzgl. 92,- Euro Verpflegung
Ermäßigung (nach Rücksprache):
225,- Euro zzgl. 92,- Euro Verpflegung

Die Anmeldung wird wirksam mit Überweisung der Tagungsgebühr zzgl. des Betrages für die Verpflegung auf folgendes Konto:
Konto-Inhaberin: IIF-Veranstaltungen
Konto: 6200 98 41 78
BLZ: 501 900 00
Frankfurter Volksbank
IBAN: DE83501900006200984178
BIC: FFVBDEFF

Veranstalter:

evolve, Dr. Thomas Steininger
Info3 – Anthroposophie im Dialog, Dr. Jens Heisterkamp
DIA – Die Integrale Akademie, Sonja Student