Zehn Jahre Herbstakademie Frankfurt

Die Kraft des Dialogs und der Kooperation:
integral, anthroposophisch, evolutionär

 

Von Sonja Student

Was ist möglich, wenn Vertreter verschiedener und verwandter philosophisch-spiritueller Richtungen dauerhaft aneinander und am Wohl des Ganzen interessiert sind, wenn sie dialogisch sind und gemeinsam handeln? Wenn sie bestehende Widersprüche aushalten und dabei nicht auseinanderbrechen, wenn sie konstruktiv ihre Spannung und Pole als VIELFALT in der EINHEIT halten und daraus Möglichkeitsräume entwickeln? Wenn die gemeinsame Suche und das Fragen wichtiger werden als die immer nur vorläufigen Antworten, ohne das vorhandene Wissen und das Unterscheidungs- und Differenzierungsvermögen aufzugeben? Der Entwicklungsprozess der Herbstakademie Frankfurt seit mittlerweile zehn Jahren zeigt aus meiner Sicht die Kraft eines „intelligenten Feldes“ und eine Intelligenz hinter der Intelligenz.

Die Herbstakademie als Bezugspunkt

Seit der Planung und Vorbereitung der ersten jährlich stattfindenden Herbstakademie 2006 arbeite ich intensiv mit Thomas Steininger von EnlightenNext Deutschland und Chefredakteur der Zeitschrift evolve sowie mit Jens Heisterkamp, Chefredakteur der anthroposophischen Zeitschrift Info3 und Erneuerer der Anthroposophie zusammen. Von unserer geistigen Herkunft sind wir Repräsentanten dreier verschiedener philosophisch-spiritueller Ansätze: der Integralen Philosophie Ken Wilbers, der Anthroposophie Rudolf Steiners und der evolutionären Spiritualität Andrew Cohens. Zugleich sind wir Personen, die ihre eigene Tiefe in der Grenzüberschreitung des Bestehenden suchen, ohne die eigene Tradition sowie die eigene individuelle Stärke leichtfertig über Bord zu werfen, alle kooperationsfähig, aber durchaus streitbar, wenn es um etwas wirklich Wichtiges geht. Durch diese Selbst-Ständigkeit und gleichzeitige Offenheit für Veränderung durch das Andere und die anderen konnten wir in den letzten zehn Jahren mit der Herbstakademie einen Bezugspunkt schaffen, nicht nur für einen Austausch zwischen den oben genannten Richtungen, sondern auch für andere Strömungen und Menschen, die an einer dialogischen, aufgeklärten und weltzugewandten Spiritualität interessiert sind und etwas dazu beitragen möchten.

Der Akademiekreis: Kultur drängt zur Struktur

Aus diesem gemeinsamen Kulturimpuls und einer gemeinsamen Praxis heraus haben wir am 21. Juni 2014 in einem Festakt und mit der Unterzeichnung einer Gründungserklärung die „Herbstakademie Frankfurt“ als jahreszeitlich übergreifende Institution gegründet. Etwa 20 Gründungsmitglieder, die schon als Impulsgeber auf den vorangegangenen Herbstakademien dabei waren, wurden von uns drei Initiatoren der Herbstakademie in den Akademie-Kreis berufen: WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen, PhilosophInnen, SozialaktivistInnenn – allen gemeinsam ist, dass sie bereits durch eigenständige Beiträge hervorgetreten sind und ein aktives Interesse an einem echten Dialog gezeigt haben. Aus der Herbstakademie und diesem Personenkreis entsteht gerade ein Programm mit öffentlichen und internen Treffen das ganze Jahr über: ein bereits eingeführter öffentlicher Akademie-Sommertag im Juli und thematisch zentrierte Veranstaltungen durch alle Jahreszeiten: u. a. zum Thema Spiritualität und Kunst in Michael Goßmanns Zentrum im Künstlerdorf Ahrenshoop (das vom Geist der Herbstakademie inspiriert ist) oder zuletzt ein Dialog über die Bedeutung des jüdischen Philosophen und Theologen Martin Buber für eine zeitgemäße Spiritualität. Die Herbstakademie lebt vor allem aus dem Engagement ihrer Mitglieder, ihrem Erkenntnisinteresse und ihrem Engagement. Ihr Fokus liegt gegenwärtig darauf, dieses Beziehungsnetzwerk zwischen den Beteiligten weiter auszubauen und zu intensivieren.

Über die Arbeit der Herbstakademie und die Beiträge ihrer Mitglieder berichten regelmäßig die beteiligten Medien und Verlage wie Info3, evolve-Zeitschrift und -Online-Radio, die integralen perspektiven und die Homepage der Herbstakademie.

Mein eigener Lernprozess: Es-Systeme und Ich-Du-Beziehungen

Eingetreten in unseren nachhaltigen Dialog bin ich (überwiegend) als jemand, die die Welt durch die Brille der Integralen Theorie betrachtet. Andere Systeme wie die Anthroposophie beispielsweise habe ich „integral gefiltert“ und versucht, sie als Teilaspekte der umfassenderen integralen Landkarte einzuordnen und sie damit nicht mehr aus sich selbst zu verstehen, sondern sie als Ganzes zu vereinnahmen. Das Integrale verstand ich damit nicht vorwiegend als orientierender, auf wesentliche Aspekte der Wirklichkeit hinweisenden Rahmen, der diese Aspekte in einer systemischen ES-Sprache darstellt, es war für mich der Rahmen überhaupt, als meine Brille. Damit war er mir nicht wirklich als Landkarte zugänglich, über die ich frei verfügen konnte, je nach Situation wichtig zur Orientierung oder auch nicht. Gute Landkarten können als orientierende Verallgemeinerungen von unschätzbarem Wert sein, sie können aber auch den direkten und unmittelbaren Zugang zur Landschaft verstellen. Das kann man einer Landkarte jedoch nicht vorwerfen. Es kommt auf ihren Gebrauch an, und daher brauchen wir meines Erachtens beides: gute Landkarten, viele Perspektiven und die Freiheit von jeglicher Perspektive, A-Perspektivität. Es gibt innerhalb der integralen Bewegung in ihrer unreifen Form eine starke Fokussierung auf das Studium der Landkarten, weil sie so wunderbar komplex und dennoch übersichtlich sind. Mit der Einordnung aller Phänomene und Strukturen in die Landkarte erwächst tatsächlich ein kognitives Verständnis von Zusammenhängen und der Ganzheit und Verbundenheit der Welt. Diese Ganzheit ist aber noch keine erlebte und verkörperte Ganzheit in der Konkretheit und Einzigartigkeit der Person.

Gerade das Fremde, das Nicht-Vereinnahmbare im Dialog, in der Begegnung und auch in unseren Vergegnungen (im Sinne Bubers) mit dem Anderen und den anderen hat mir in den letzten Jahren geholfen, eine falsche Sicherheit und Identität als „Integrale“ immer wieder infragezustellen und mehr an dem interessiert zu sein, was ich noch nicht weiß, als an dem, was ich schon weiß. Die Konflikte und das Sich-Aussetzen haben mich in meinem Selbst-Verständnis immer wieder erschüttert. Aus guten, aber immer vorläufigen Antworten sind vor allem essentielle Fragen entstanden: Wie können wir Anfang des 21. Jahrhunderts als Menschen miteinander leben und lernen, in unserem Menschsein das Göttliche oder das Eine verwirklichen? Für die Antworten brauchen wir einen echten Dialog jenseits der Getrenntheit, in Selbstständigkeit der Personen und Richtungen und in einer tiefen Verbundenheit für etwas, welcher nur aus der Freiheit von Allem entstehen kann. In un­serem gemeinsamen Prozess ist es wichtig, das Eigene klar zu entwickeln und sich in dem Anderen mit seinen Stärken und Schwächen zu spiegeln. Nur im Angesicht des Anderen wird uns das Eigene bewusst, beides ist untrennbar voneinander.

Integral – anthroposophisch – evolutionär

Heute kann ich sagen: durch den Dialog bin ich Integral geblieben und integrierter und integrer geworden, und damit zugleich evolutionärer und anthroposophischer. Ich vermute, meinen Partnern der Herbstakademie geht es ähnlich von ihrem jeweiligen Startpunkt aus. Ich habe mehr Fragen als Antworten. Ein wichtiger Schlüssel für meine eigene Erweiterung war die Freundschaft mit Menschen, von deren Wahrhaftigkeit und Integrität ich überzeugt war und bin, und die andere An-Sichten hatten. Das Sich-Aushalten in den Polaritäten in den Ich-Du-Beziehungen hat mir geholfen, die Grenzen meiner eigenen Identifikationen zu öffnen für die radikale Dimension der Andersheit als ein Teil einer Spiritualität des Lebens, die das Heilige und das Profane nicht mehr trennt, sondern das Leben heiligt oder heil macht. Ich bin sehr dankbar, dass das Integrale mir zu einem tieferen und ganzheitlicheren Verständnis von Wirklichkeit verholfen hat. Ich bin dankbar, dass die Anthroposophie mir zu einem essentiellen Verständnis der Rolle des Menschen im Kosmos verholfen hat und mir ermöglicht, meine Arbeit für die Menschenrechte und Kinderrechte tiefer zu fundieren. Ich bin dankbar, durch die evolutionäre Ausrichtung mehr an den Fragen, dem Nicht-Wissen als an den bisherigen Antworten interessiert zu sein. Und nicht zuletzt bin ich dankbar für die vielen neuen Weggefährten aus dem Akademiekreis oder beispielsweise den kooperierenden Kreisen um Annette Kaiser und der Villa Unspunnen oder Joachim Galuska und der Akademie Heiligenfeld. Auf je verschiedenen Wegen leisten sie wie viele andere Weggefährten wichtige Beiträge für eine neue Kultur des bewussten Lebens, in der die Intelligenz hinter der Intelligenz sichtbarer und wirksamer werden kann, weil wir uns dafür öffnen.

Was ist das spirituelle Potenzial der westlichen Welt?

Als wir den Flyer für die diesjährige Herbstakademie zur Endredaktion brachten, haben wir kurz vor Schluss den Titel: „Das spirituelle Potenzial der westlichen Welt“ in eine Frage verwandelt und die gemeinsame Suche betont. Es geht bei der Herbstakademie nicht nur um ein Thema, sondern darum, wie wir uns als Menschen mit unseren Mitmenschen den drängenden Fragen unsere Zeit stellen und auf den Ruf des Lebens antworten – d. h. Verantwortung übernehmen – einzeln und gemeinsam. Was kann die westliche Zivilisation zum Wohl der Weltgemeinschaft beitragen, wenn sie sich ihrer eigenen spirituellen Tiefe besinnt? „Was sich oft nur als Eroberung und Nutzbarmachung der sinnlichen Welt zeigt, trägt in sich auch die Kraft einer erkennenden Einheit mit den Dingen und einer kreativen Liebe für diese Welt, um sie menschlich zu gestalten“, heißt es im Einleitungstext. Ich lade Sie herzlich ein, dieser Frage mit uns gemeinsam nachzugehen und Antworten zu kreieren.

Erschienen in „integrale perspektiven“ 30 – 3/2015